Das Problem der Probleme

Die Frage, an der gegenwärtig unter uns Sozialisten die Geister sich scheiden, ist die nach dem Verhältnis von Sozialismus und Gewalt. [...] Von welcher Seite her wir die heute brennenden Probleme des Sozialismus auffassen mögen, überall stoßen wir zuletzt auf dieses Zentralproblem, dieses Problem der Probleme. Es ist, wie wir alle wissen, auch der Kern der Bolschewismusfrage. Dieses Zentralproblem des Sozialismus aber ist heute wohl das der ganzen Kultur. Dass es im Sozialismus seinen Brennpunkt findet, zeigt, wie dieser nun eben selbst das Zentrum einer neuen Kultur geworden ist. [...]

 

Sozialismus als Verwirklichung der Demokratie

Und nun gehört es zur Sache, wenn wir hinzufügen: Genau den gleichen Sinn hat das demokratische Prinzip. Wenn wir von diesem reden, so müssen wir es von der Verwirklichung, die es in der bürgerlichen Demokratie erfahren hat, sorgfältig unterscheiden. Unsere bürgerliche Demokratie ist auch in ihrer vollendetsten Form nur ein ganz vorläufiger und ungenügender Ausdruck des demokratischen Prinzips, wie sie überhaupt nur eine ganz mangelhafte Darstellung gesellschaftlicher Freiheit ist. Das demokratische Prinzip steht hoch über der bürgerlichen Demokratie.

Worin besteht es denn? Etwa in der Anerkennung der Mehrheit, im Parlamentarismus und seinem Zubehör, im zügellosen Spiel aller Kräfte? Bei weitem nicht. Das sind nur oberflächliche und zeitgeschichtlich bedingte Versuche, es zu verwirklichen, welche besseren weichen können. Das Prinzip als solches besteht vielmehr eben in jener Betonung des unbedingten Wertes, der jedem einzelnen Menschen als solchem eignet, unabhängig von äußeren Umständen, als da sind: Herkunft, Geld, gesellschaftlicher Rang, Schulbildung und anderes mehr; es besteht, mit anderen Worten, in dem Glauben an die Freiheit jedes einzelnen Menschen und was daraus folgt: in dem Versuch, das Gemeinschaftsleben der Menschen in allen seinen Formen so zu gestalten, dass darin der Glaube an den jedem Menschen ohne Ausnahme verliehenen unbedingten Wert und an seine Bestimmung zur Freiheit und zum höchsten Menschentum zum Ausdruck kommt. Aus diesem Geiste ist die moderne Demokratie entstanden, die antike ist bloß eine Vorahnung davon. Es wäre die Aufgabe einer tiefgründigen, von der Schablone eines verflachten Geschichtsmaterialismus befreiten sozialistischen Geschichtsbetrachtung, diesen Ursprung der Demokratie aus den tiefsten Quellen der menschlichen Geschichte aufzuweisen.

Nun ist zuerst die bürgerliche Demokratie gekommen und hat diesem Prinzip eine gewisse politische Verwirklichung gegeben. Sie war, wie schon bemerkt worden ist, ungenügend, und zwar, weil sie eben bloß politisch und nicht zugleich wirtschaftlich war. Politisch waren alle gleich, wirtschaftlich waren sie zum großen Teil Herr und Knecht, womit selbstverständlich auch jene politische Gleichheit illusorisch wurde. Das demokratische Prinzip wurde vielfach eine bloße Drapierung, die man heute mit Leichtigkeit abwirft, wo man meint, es sich erlauben zu dürfen. Aber es ist heute eben die Aufgabe des Sozialismus, es aufzunehmen und weiterzuführen, einer vollen Verwirklichung entgegen, indem er es im wirtschaftlichen Leben durchsetzt und von hier aus dann das politische neu gestaltet. Der Sozialismus ist also prinzipiell und historisch betrachtet nicht die Auflösung, sondern die Erfüllung der Demokratie. Sozialismus und Demokratie aber sind gleichmäßig eine Ersetzung der Gewalt durch Geist und Freiheit.

Denn das Gegenteil der Demokratie wie des Sozialismus ist ja eben die Gewalt. Der Kapitalismus ist Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, und diese geschieht natürlich bloß durch Vergewaltigung. Das Mittel dieser Vergewaltigung ist das Geld (Kapital) und die hinter ihm stehende Staatsgewalt, die im Militär gipfelt, dazu gewisse geistige Mächte, die in den Dienst der Gewalt gestellt werden, als da sind: eine vom Geld und der herrschenden Macht abhängige Presse, Schule, Kirche, Religion, den »Patriotismus« nicht zu vergessen! Die Auffassung des Menschen aber, die diesem System zu Grunde liegt, ist die eines bloßen Mittels zum Zwecke, einer Sache, einer Ware, einer Maschine, eines Sklaven, und die ganze dazugehörige Lebensauffassung und Weltanschauung der Materialismus. Das Gleiche gilt vom politischen Absolutismus. Er unterscheidet im Grunde immer zwischen zwei Menschenarten: dem Herrn und dem Knecht. Nur jener ist zu Freiheit und völligem Menschentum berufen, dieser zum Abhängigsein und Dienen, wobei immerhin ein patriarchalisches Regiment einem despotischen vorgezogen werden mag.

Dies sind die zwei Welten, die einander gegenübertreten: die Welt der Gewalt und die der Freiheit, die des Stoffes und die des Geistes. Es ist doch wohl ganz klar, wohin der Sozialismus gehört. [...]

Ein Reich der Freiheit kann nur durch Freiheit entstehen

Wenn dies alles richtig ist, dann zeigt sich auch, dass es nicht angeht, einen Unterschied zu machen zwischen dem verwirklichten Sozialismus selbst und seiner Herbeiführung. Vielmehr taucht hier abermals eine alte Wahrheit auf, die die Kraft eines Naturgesetzes besitzt: dass nämlich eine Sache nur durch diejenigen Mittel, die ihrem Wesen entsprechen, wirklich herbeigeführt werden kann. Wenn man ein Gewaltreich aufbauen will, dann brauche man Gewalt, wenn man aber ein Reich der Freiheit gründen will, dann brauche man Freiheit. Das Gesetz lässt sich auch umgekehrt ausdrücken: Eine Sache bleibt so, wie sie ursprünglich begründet worden ist. Wo man mit der Gewalt begonnen hat, da bringt man sie nicht mehr hinaus. Eine innere Notwendigkeit zwingt dazu, immer neue Mittel der Gewalt anzuwenden, bis man an der Gewalt zugrunde geht; wo man aber mit dem Geiste begonnen hat, da wird der Geist sich immer wieder regen und gegen die Verunreinigung durch die Gewalt protestieren. Darum ist es ein schwerer Irrtum, wenn man meint, der Sozialismus könne zunächst einmal durch Gewalt eingeführt werden, später werde man dann diese Gewaltform abstreifen. Ja, das mag man wollen, aber man wird es nicht können. Man hat sich jenen dunklen Mächten verschrieben, und sie geben keinen mehr los.

Es kann keinen verhängnisvolleren Irrtum geben als die Meinung, man fördere eine Sache dadurch, dass man sie verrate; der Weg zu ihrem Sieg im Ganzen sei gleichsam mit einer Masse von solchem Verrat im einzelnen gepflastert; wenn man sie lang genug verraten, dann werde sie endlich triumphieren. Nein, es wird dann jemand anders triumphieren! Das grandioseste Beispiel dieser Gefahr, sich, um den Sieg einer Sache zu fördern, mit den ihr feindlichen Mächten in einen Pakt einzulassen, ist die Geschichte von der Versuchung Christi. Sie enthält eine ganz allgemein gültige Wahrheit von ungeheurer Aktualität für uns.

Nach all diesen Überlegungen hält es nicht schwer, auch den Irrtum aufzudecken, der in der vorgeschlagenen Methode liegt, durch Gewalt eine Minderheit in eine Mehrheit zu verwandeln. Diese Methode ist ja auch schon oft versucht worden, und der Erfolg war immer eindeutig. Das berühmteste Beispiel ist das soeben angeführte: die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion. Man hat damals auch begonnen, jene Massen, die eigentlich ihrer ganzen Lage nach zum Christentum gehört hätten, bisher aber nicht zu ihm gekommen waren, mit Benützung des staatlichen und kulturellen Apparates »aufzuklären«. Und man hat sie bekommen. Aber was hatte man mit diesen Scharen von Namenschristen gewonnen? Ein Bleigewicht am Fuße des Christentums, eine Lähmung seiner Seele. War es nicht viel mehr Verlust als Gewinn? Wenn wir einmal den Apparat in die Hand bekämen, dann könnten wir wohl Sozialisten in Massen bekommen, aber manchen unter uns schaudert schon jetzt ob diesen »Sozialisten«.

Überhaupt kann nicht genug betont werden, dass die Gewaltmethode dem Sozialismus das raubt, was er am allermeisten nötig hat, die freudige Begeisterung seiner Anhänger. Diese ist stets eine Folge der Freiheit. Sie schlägt gerade aus dem Unterdrücktwerden hervor, während der Unterdrücker selbst sie leicht verliert. Denn weil Gewalt Unglauben gegenüber dem Geist ist, so zerstört sie in dem, der sie anwendet, selbst den Glauben an seine Sache und unterwühlt so das Fundament des eigenen Baues. Alle Tyrannei macht skeptisch und müde. Aber gerade der Sozialismus bedarf eines unermesslichen Hortes von Jugend und Liebe. Wir löschen durch Gewalt die Begeisterung für die eigene Sache aus und entzünden solche für den Gegner. Wenn wir zum Beispiel die bürgerliche Presse unterdrücken, so verleihen wir ihr außer einem unverdienten Märtyrernimbus noch ein erhöhtes Interesse. Wenn wir aber selbst einmal wieder Gewalt leiden sollten, hätten wir uns des Rechtes beraubt, uns darüber zu entrüsten. Hüten wir dieses heilige Feuer! Töten wir den Geist nicht um der Macht willen! Er ist die Macht!

(Auszüge aus: Sozialismus und Gewalt, Olten 1919)

Die Bewegung der religiösen SozialistInnen entstand in Deutschland aus dem Entsetzen über den Ersten Weltkrieg. Auch in der Schweiz war die religiös-soziale Bewegung stark mit der pazifistischen Verbunden. Der wichtigste Schweizer religiöse Sozialist Leonhard Ragaz war auch eine der Schlüsselfiguren bei der Gründung des Internationalen Versöhnungsbundes. Da war es unausweichlich, dass er sich angesichts der Russischen Revolution mit der Frage der Gewaltanwendung zur Durchsetzung des Sozialismus auseinandersetzte.