Jeder Sozialismus, dessen Grenze enger ist als Gott und der Mensch, ist uns zu wenig (Leonhard Ragaz)

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Religiöser Sozialismus kann nicht Verknüpfung von Religion und Sozialismus bedeuten, dergestalt, dass jeder seiner beiden Bestandteile auch unabhängig vom anderen, wenn nicht sein Genügen, so doch sein selbständiges Leben finden könnte und die beiden nur eben einen Vertrag geschlossen hätten, um ihre Selbständigkeiten zu einer des gemeinsamen Seins und Wirkens zusammenzufügen. Religiöser Sozialismus kann vielmehr nur bedeuten, dass Religion und Sozialismus wesensmäßig aufeinander angewiesen sind, dass jedes von beiden zur Erfüllung und Vollendung des eigenen Wesens des Bundes mit dem andern bedarf.

Die religio, das ist die Selbstbindung der Menschenperson an Gott, kann ihre volle Wirklichkeit nur am Willen zu einer Gemeinschaft des Menschengeschlechtes – als die allein Gott sein Reich bereiten darf – gewinnen; eine socialitas, das ist ein Genossenschaftwerden der Menschheit, ein Genossewerden von Mensch zu Mensch; kann nicht anders wachsen als aus der gemeinsamen Beziehung zu der, wenn auch wieder und noch namenlosen, göttlichen Mitte. Verbundenheit mit Gott und Gemeinschaft zu den Kreaturen gehören zusammen. Religion ohne Sozialismus ist entleibter Geist, also auch nicht wahrhafter Geist; Sozialismus ohne Religion ist entgeisteter Leib, also auch nicht wahrhafter Leib. Aber: Sozialismus ohne Religion vernimmt die göttliche Ansprache nicht, er geht nicht auf Erwiderung aus, und doch geschieht es, dass er erwidert; Religion ohne Sozialismus vernimmt die Ansprache und erwidert nicht.

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Alle »religiösen« Formen, Institutionen und Verbände sind je nachdem real oder fiktiv, ob sie einer wirklichen Religio – einer wirklichen Bindung der Menschenperson an Gott – zum Ausdruck, zur Gestalt und zum Träger dienen, oder nur neben ihr her bestehen, oder gar die Flucht vor der wirklichen Religio – als welche die konkrete Antwort und Verantwortung des Menschen im Jetzt und Hier einschließt – decken. So sind auch alle »sozialistischen« Tendenzen, Programme und Parteiungen je nachdem real oder fiktiv, ob sie einer wirklichen Socialitas – einem wirklichen Genossenschaftwerden der Menschheit – zur Kraft, zur Anweisung und zum Werkzeug dienen, oder nur neben ihrem Wachstum her bestehen, oder gar die Flucht vor der wirklichen Socialitas – als welche das unmittelbare mit einander Leben und für einander Leben der Menschen im Jetzt und Hier einschließt – decken. In der Gegenwart sind die geltenden religiösen Formen, Institutionen und Verbände, in die Fiktivität eingetreten, die geltenden sozialistischen Tendenzen, Programme und Parteiungen noch nicht aus der Fiktivität hervorgetreten. So steht heute im Bezirk der Geltung Schein gegen Schein. Aber im Bezirk der verborgenen Künftigkeit hat die Begegnung zu geschehen begonnen.

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Der Ort, wo Religion und Sozialismus einander in der Wahrheit zu begegnen vermögen, ist die Konkretheit des persönlichen Lebens. Wie Religion in ihrer Wahrheit nicht Glaubenslehre und Kulturvorschrift, sondern das Stehen und Standhalten im Abgrund der realen wechselseitigen Beziehung mit dem Geheimnis Gottes ist, so ist Sozialismus in seiner Wahrheit nicht Doktrin und Taktik, sondern das Stehen und Standhalten im Abgrund der realen wechselseitigen Beziehung mit dem Geheimnis der Menschen. Wie es Vermessenheit ist, an etwas zu »glauben«, ohne – wie unzulänglich auch – auf das zu leben, woran man glaubt, so ist es Vermessenheit, etwas »durchsetzen« zu wollen, ohne – wie unzulänglich auch – auf das zu leben, was man durchsetzen will. Wie das Dort versagt, wenn das Hier nicht drangegeben wird, so muss das Dann versagen, wenn das Jetzt es nicht bewährt. Die Religion soll wissen, dass es der Alltag ist, der die Andacht heiligt und entheiligt. Und der Sozialismus soll wissen, dass die Entscheidung darüber, wie ähnlich oder unähnlich der erreichte Zweck dem einst gesetzten ist, davon abhängt, wie ähnlich oder unähnlich dem gesetzten Zweck das Mittel war, durch das er erreicht wurde. Religiöser Sozialismus bedeutet, dass der Mensch in der Konkretheit seines persönlichen Lebens mit den Grundfakten dieses Lebens Ernst macht: den Fakten, dass Gott ist, dass die Welt ist, und dass er, diese Menschenperson, vor Gott und in der Welt steht.

Martin Buber, wohl der bekannteste jüdische religiöse Sozialist, warb als Teilnehmer an den religiös-sozialistischen Tagungen immer für den Mut zur „Verwirklichung im Kleinen“, wie in den Lebensgemeinschaften der Kibbuzim oder den religiös-sozialistisch motivierten Siedlungen der Bruderhöfe und anderer Projekte. Die „Drei Sätze eines religiösen Sozialisten“ erschienen erstmals 1928 in den „Neuen Wegen“, der damals von Leonhard Ragaz herausgegebenen Zeitschrift der Schweizer Resos.