[...] Und noch einen dritten Ausweg bereiten die Nazis vor: Sie suchen im deutschen Volk unterzutauchen, damit so viele von ihnen wie möglich der Vernichtung entgehen. Sie tun das nicht, um sich selbst zu retten, sondern um das Gift, mit dem sie Deutschland ruiniert haben, lebendig zu halten und jedes neue Deutschland damit zu vergiften. Wenn ein Körper schwach ist, genügt das Überleben weniger Giftträger, um einen neuen Krankheitsausbruch zu erzeugen. Hier liegt vielleicht die größte Gefahr für die deutsche Zukunft.
Schneidet den Nazis diesen Ausweg ab, meine deutschen Freunde, schon jetzt. Lasst sie nicht wieder in den Volkskörper eindringen, nachdem sie einmal ausgeschieden sind, scheidet Euch von dem, womit sie das deutsche Volk an Leib und Seele verdorben haben. Gebt ihnen keine Hoffnung, dass ihre Gedanken sich einmal in Zukunft durchsetzen werden, denn es sind Gedanken der Gewalt und nicht der Gerechtigkeit, es sind Gedanken des Hasses und nicht der Liebe, es sind Gedanken, die nicht aufbauen, sondern zerstören. Schneidet den Nazis auch den letzten Ausweg ab, meine deutschen Freunde, den Ausweg in die Zukunft.
(Gesendet von Voice of America am 13. 3. 1944)
Der religiöse Sozialist Paul Tillich war Professor für Philosophie in Frankfurt am Main. Wegen seines Protests gegen antisemitische Aktionen des NS-Studentenbundes und der Veröffentlichung seiner antifaschstischen Schrift „Die sozialistische Entscheidung“ wurde Paul Tillich 1933 als erster nichtjüdischer Professor aus dem Amt entfernt. Seine Schriften und sämtliche Veröffentlichungen des Alfred-Protte-Verlags, in dem sie erschienen waren, wurden verboten. Tillich floh in die USA, wo er sich als Vorsitzender der Exilorganisation "American Friends of German Freedom" betätigte. Von dort aus wandte er sich Anfang der 1940er Jahre mit antifaschistischen Radioansprachen an die deutsche Bevölkerung, wie in dem hier wiedergegebenen Auszug aus der Endphase des Krieges. Paul Tillich entwickelte sich in den USA zu einem der wichtigsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts und kehrte niemals dauerhaft nach Deutschland zurück.